Bericht über den Trialogischen Tag im November 2017 von Heidi Kolboske / Heilpraktikerin (Psychotherapie)

  1.  Trialogischer Tag in Duisburg in 2017

Die Borderline Persönlichkeitsstörung, zwischen Ablehnung und Sensationsgier

 

Unter dem provokanten Motto „Borderline zerstört Familien – aufgrund fehlender Unterstützung und Hilfe!?!“ fand am 03. November 2017 der erste Trialogische Tag zum Thema statt. Organisiert hatte ihn die erst kürzlich von der Novitas BKK für ihr Engagement geehrte Heilpraktikerin für Psychotherapie, Sabine Thiel. Unter den Gästen waren sowohl Betroffene wie Behandler als auch Angehörige von Betroffenen. Fünf Programmpunkte, die zum Teil erschütternde Erkenntnisse über die Konsequenzen von Hilfeverweigerung oder Unkenntnis von Hilfsangeboten hervorbrachten, gaben Zeugnis von einem immensen Handlungsbedarf, fehlenden Strukturen und Behördenversagen. Was bleibt, ist die Selbstorganisation. Netzwerkarbeit kann als stabile Lanze für einen Vorstoß in ein bestehendes Vakuum genutzt werden.

 

Borderline: Wie fühlt sich das an?

 

Damit ein nicht betroffener Mensch sich eine ungefähre Vorstellung davon machen kann, was es bedeutet, schon kurz nach dem Aufwachen einen erhöhten Stresspegel zu haben, haben die Organisatorin und an der BPS erkrankte Menschen einen Borderline-Parcours errichtet, den zu durchschreiten jeder Gast eingeladen war. Errichtet war ein schwarzes Plastikzelt, in welchem sich kaum sichtbare taktile Reize befanden, die einen unvorhergesehen berührten. Stroboskoplampen hämmerten dem Besucher Blitzlichtgewitter auf die Netzhaut, Martinshörner und Presslufthämmer krakehlten ein abscheuliches Duett, quer gespannte Gummibänder verhinderten einen einmal gewählten Weg. Ein mühsames Vorantasten wurde zudem noch von Dutzenden auf dem Boden liegenden Luftballons erschwert. Wer da die Nerven verliert und mit noch lauterem Getöse auf einen Ballon tritt, erhöht den eigenen Stresspegel um ein Vielfaches. Man möchte einfach nur weg, aber die Hinterwand des Zeltes, die den leichten Ausgang hätte bedeuten können ließ sich nur mit einigen Widerstand beiseite ziehen. Wenn das die tägliche Wahrnehmungsrealität des Borderliners bedeutet, kann man sich vorstellen, dass es zum Verlust der Impulskontrolle nur noch ein kleiner Schritt ist.

 

Was kann passieren, wenn Hilfe ausbleibt?

 

Da sind junge Menschen, Frauen zumeist, die nicht wissen was mit ihnen los ist. Sie wissen lediglich, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Sie leben in Extremen um der Selbstwahrnehmung willen, rasen, toben, verletzen sich womöglich selbst. Wenn sie schon nicht mit sich selbst klar kommen, wie soll das erst den Angehörigen gelingen? Zwei Mütter denen es so erging, schilderten in sehr emotionalen Erfahrungsberichten den Verlust ihrer Töchter. Die eine Tochter starb durch Suizid, bei der BPS keine Seltenheit. Die andere Tochter geriet in die Hände eines Schulpsychologen, der sie manipulierte und so verdrehte, dass sie vermeintlich nur Halt, Wertschätzung und Akzeptanz bei ihm zu finden glaubte. Der Kontakt zu den Eltern wurde abgebrochen, der Name ist aus dem WWW gelöscht, keine sozialen Netzwerke, dafür aber eine Kontonummer, auf welche die Eltern die Behandlungskosten zu überweisen haben. Wenn eine rechtzeitige Diagnostik mit sich anschließender Hilfe hätte erfolgen können, wäre die tragische Entwicklung der beiden jungen Frauen unter diesen Umständen wohl abzuwenden gewesen. Was zurückbleibt, ist ein verwaistes Elternpaar und eines, das noch immer mit der Hoffnung lebt, eines Tages könnte das Telefon klingeln.

 

Welche offiziellen Stellen bieten Hilfe an?

 

Nach der sehr eindrucksvollen Schilderung dieser beiden mutigen Mütter, die frei von ihren furchtbaren Verlusten berichteten, wurde während einer Podiumsdiskussion über Hilfsmöglichkeiten aber auch Behördenversagen diskutiert. Vertreter des Jugendamtes Duisburg, der Familienhilfe, eines Trägers für ambulant betreutes Wohnen und einem Vertreter der Beschwerdestelle für psychiatrieerfahrene Menschen legten dar, dass es sehr wohl Anlaufstellen für Betroffene und deren Angehörige gibt. Das Erstaunliche war, dass nur ein sehr geringer Teil der anwesenden Betroffenen hierüber umfassend informiert war. Auch darüber, dass Rechtsmittel eingelegt werden können, wenn ein Antrag auf Hilfsleistungen abgelehnt wird, dass man Beschwerde einlegen kann, wenn aufgrund der psychischen Erkrankung ein Betroffener diskriminiert wird.

Auch hier kamen Betroffene zu Wort und berichteten von Behördenwillkür und massiven Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, in welch eklatanter Weise Menschen mit einer BPS behördlichen Übergriffen ausgesetzt sein können:

Eine junge Frau auf Jobsuche sprach von ihren Erlebnissen bei der Arbeitsagentur. Sie wurde grob abgewiesen, mit einer Borderlineerkrankung sei sie nicht vermittelbar, weil sie ja noch nicht einmal ihr eigenes Leben auf die Kette kriegen würde. Das würde kein Arbeitgeber mitmachen. Eine andere Frau berichtete unter Tränen, dass ihr als werdender Mutter in den Wehen im Kreißsaal mitgeteilt wurde, sie könne es vergessen, wenn sie glauben würde, dass sie mit ihrem Kind nachhause gehen könne. Sie würde es noch nicht einmal zu Gesicht bekommen wenn es geboren sei, es würde sofort in Obhut gegeben. Sie hätte schließlich Borderline und eine Gefährdung des Kindeswohls sei daher absehbar.

 

Stigma, Vorurteil („das sind doch die, die sich ritzen“) und weit reichende Ausgrenzung scheinen immer noch mehr Regel als Ausnahme. Auch wenn die sehr kompetenten Mitarbeiter des Jugendamtes und der Familienhilfe Duisburg hier auf die Unrechtmäßigkeit der Ereignisse hinter den Schilderungen verwiesen, so blieb doch ein Stück weit Ratlosigkeit, wie es denn überhaupt zu so etwas kommen kann.

 

Ergebnis der Podiumsdiskussion war, dass es niedrigschwelligere Hilfsangebote geben müsse und die Öffentlichkeitsarbeit vorangetrieben werden muss. Was nützt es, wenn jemand Unterstützung haben kann, aber davon keine Ahnung hat? Was nützt es, wenn jemand davon weiß, aber eine zu große Schwellenangst vor dem Betreten von Ämtern hat, ganz zu schweigen davon, wenn eine komorbide Depression Betroffene daran hindert, Behördengänge auf sich zu nehmen? Strukturen könnten angepasst werden, Informationen müssten einfacher zu beschaffen sein und schlussendlich muss Behördenmitarbeitern klar gemacht werden, dass man Menschen mit einer BPS nicht nach Belieben herumschubsen kann.

 

Wie helfen Ärzte?

 

Der Initiatorin der Veranstaltung, VFP-Mitglied Sabine Thiel war es gelungen, die hoch kompetente Expertin für die Borderline Störung, Dr. Nathalie Kirstein für einen Vortrag zum Thema zu verpflichten. Die wesentlichen Punkte, über die komprimiert und doch informativ referiert wurde, waren: Symptomatik, Diagnostik und Therapie. Ein deutlich hervorgehobenes Anliegen der Psychiaterin war ein vehementes Fordern einer verantwortungsvollen und gründlichen Diagnostik: „Eine Diagnose stellen nach zehn Minuten zwischen Tür und Angel, das geht gar nicht!“ Differenzialdiagnostisch können schließlich noch andere Krankheitsbilder vorliegen wie zum Beispiel die bipolare Störung. Auch ADHS könne in Betracht kommen. Das gelte es sorgfältig abzuklären, um eine gesicherte Diagnose stellen zu können. Allzu häufig jedoch wird jemand mit dem Stempel „Borderline“ versehen, ohne dass das tatsächlich zutrifft.

 

Was Anlass zur Hoffnung für effektive Hilfe gibt, ist die Weiterentwicklung von bereits bewährten Psychotherapiemethoden. So kann Tiefenpsychologie immer noch hilfreich eingesetzt werden, aber und vor allem auch die Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT), die Ressourcenbasierte Psychodynamische Therapie (RPT) und die Übertragungsfocussierte Psychotherapie (Transference-focused Psychotherapy, TFP). Sie sowie achtsamkeitbasiertes Vorgehen bieten eine inzwischen sehr große Bandbreite an Behandlungsmöglichkeiten für ein Individuum. Wichtig war noch hervorzuheben, dass die Erkrankung als solche nicht mit Medikamenten zu behandeln ist. Ausschließlich bei vorhandener Co-Symptomatik wie beispielsweise Depression kann eine Pharmakotherapie sinnvoll sein. Gegen die Borderlinesymptomatik hilft ausschließlich Psychotherapie.

 

Was sagen die Betroffenen?

 

Zum Abschluss berichteten einige Betroffene und auch die Ehefrau eines Betroffenen über das Leben mit der Störung. Das war eine mutige Präsentation seitens der Borderline-Persönlichkeiten, wenn man bedenkt, dass sie doch eigentlich lieber nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen möchten. Dabei ging es um Selbstwahrnehmung und ja, auch Selbstverletzung. Es wurde berichtet, wie das soziale Umfeld reagiert und wie Strategien für die Alltagsbewältigung aussehen können. Und es wurde deutlich, wie dankbar Hilfsangebote aufgegriffen werden. Die von Sabine Thiel ins Leben gerufene Selbsthilfegruppe, auch für Angehörige, sowie das von der Novitas BKK getragene Projekt „ich höre Dir zu“ sind zwei Beispiele für Anlaufstellen mit niedrigem Schwellenwert. Und genau hier gilt es weiter zu machen, sich zu vernetzen, auszutauschen. Die Aussage, die immer noch in der Psychotherapeutenausbildung herumgeistert „wenn Sie in Ihrer beruflichen Laufbahn mehr als drei Borderliner therapieren, gehen Sie vor die Hunde“ muss dringend widerlegt werden. Sie stimmt nämlich nicht! Borderliner sind keine Aliens (auch wenn ihr soziales Umfeld ihnen häufig das Gefühl gibt, es wäre so), es sind Menschen. Zugegeben, meistens ein bisschen schräg.

 

Heidi Kolboske, Heilpraktikerin für Psychotherapie

 

Das Borderline-Netzwerk im Internet:

www.bonetz.de